Seid Menschen!

Zum Volkstrauertag 2024

Foto: Andrea Hesse

Im August 1944, vor 80 Jahren, endete eines der dunkelsten Kapitel der NS-Zeit: Die „Sonderaktion 1005“, mit der die Nationalsozialisten die Spuren ihrer in der Sowjetunion und Osteuropa begangenen Verbrechen tilgen wollten. Ziel war es, möglichst alle Beweise zu vernichten, die über das Ausmaß von Völkermord und Massakern Zeugnis geben konnten. Ab 1942 vollzog sich vielerorts das Grauen der sogenannten „Enterdung“: Massengräber öffnen, Tote herauszerren, aufschichten und verbrennen. Die Knochen zermalmen, die Asche verstreuen.

Die Dimension und die Folgen allein des Zweiten Weltkrieges bleiben für mich unfassbar: Über 60 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte von ihnen Zivilisten, verloren ihr Leben durch kriegerische Handlungen, Massenmord in Lagern und Bombenangriffe, auf der Flucht, im Zuge von Vertreibung und Deportation. Ihrer gedenken wir am Volkstrauertag. Und wir gedenken der Opfer aller anderen Kriege – früher und heute.

Anteilnahme am Leid von Menschen damals und Anteilnahme am Leid von Menschen heute ist zutiefst menschlich. Unmenschlich ist es zu verharmlosen, zu verleugnen, zu vergessen. Wenn wir als Gesellschaft unser Gedenken an die Opfer aufgeben, dann hat unsere Gesellschaft die Bezeichnung menschlich nicht verdient.

Mehr noch: Wenn wir als Gesellschaft unser Gedenken an die Opfer aufgeben, geben wir unsere Zukunft auf. Erich Kästner (1899-1974) sagte das 1958 (anlässlich des 25. Jahrestages der Bücherverbrennung 1933) bei der Tagung des PEN-Zentrums Deutschland, einer vor einhundert Jahren gegründeten deutschen Schriftstellervereinigung, mit anderen Worten so: „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf.“

PS: Der Opfer zu gedenken um unserer Menschlichkeit und unserer Zukunft willen, das kommt übrigens ohne (partei-)politische Auseinandersetzungen, ohne (partei-)politisches Kalkül und gegenseitige Schuldzuweisungen aus. Oder wie Margot Friedländer nicht müde wird zu sagen: Seid Menschen!

Superintendent Dirk Jonas

Volkstrauertag: Gedenken seit 1922

Am Volkstrauertag (17. November) gedenkt Deutschland der Toten von Krieg und Gewaltherrschaft. Vor mehr als 100 Jahren, im Jahr 1922, fand im Deutschen Reichstag in Berlin die erste offizielle Feierstunde zu einem Volkstrauertag statt. Die Initiative kam vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der einen Tag zur Erinnerung an die Kriegstoten des Ersten Weltkrieges angeregt hatte. Damals wurde der Volkstrauertag noch während der Passionszeit vor Ostern begangen.

Während der NS-Diktatur machten NSDAP und Wehrmacht den Tag zum propagandistischen „Heldengedenktag“. In der Bundesrepublik Deutschland wurde er Anfang der 50er Jahre neu eingeführt, als Gedenktag für die Opfer der beiden Weltkriege und des Nationalsozialismus. Er findet seitdem jeweils zwei Sonntage vor dem ersten Advent statt.

Es handelt sich um einen sogenannten stillen Feiertag. Kranzniederlegungen und andere Veranstaltungen sollen zur Versöhnung und Völkerverständigung beitragen und rufen zu Toleranz und Frieden auf. Vor öffentlichen Gebäuden wehen die Flaggen auf halbmast.

Der Bundespräsident spricht in der zentralen Gedenkstunde für die Opfer der beiden Weltkriege und des Nationalsozialismus traditionell das Totengedenken. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dabei 2020 erstmals auch die Opfer terroristischer, politisch motivierter, rassistischer, antisemitischer und islamistischer Anschläge und Morde einbezogen.

Quelle: epd Niedersachsen/Bremen

Zurück